Pressestimmen
Tagtraum führt zu Zauberwelt
„Höret her …“ ertönt es aus dem Hintergrund im Studio der Musikschule, „… also magst mit holden Tönen eine Stunde uns verschönen …“ – so beginnt mit der Märchenoper Schneeweißchen und Rosenrot eine Stunde des sinnlichen Vergnügens, bei dem sich auch die Seele angesprochen fühlen mag: als der Komponist Carl Reinecke einmal unter Angstzuständen litt verfiel er in einen Tagtraum, bei dem er eine wunderbare Zauberwelt – das Märchen als Reich der Sicherheit – geschaut habe. Auch hier vergisst man ein wenig das Heute und lässt sich verzaubern von Schülern der Gesangsklassen Cordelia Hanus und Ryoko Yoshihara in einer Aufführung als eine Art kleines Gesamtkunstwerk.
„Draußen am Waldesrand …“ – Christian Moll beginnt mit angenehmer Stimme zu erzählen, das Märchen der Gebrüder Grimm entfaltet sich in wunderschöner Kostümierung auf liebevoll gestalteter Bühne. Schneeweißchen und Rosenrot heben zu singen an – Silvia Fansi Tchonko bringt den mutigen und lebhaften Charakter Rosenrots, Antonia Gschwendtner die ein wenig schüchterne Art Schneeweißchens stimmlich sehr schön zum Ausdruck. „Rosenelfen zart und fein“ und Waldvögelein „witt witt …“ mischen sich ein, ihr lieblicher Gesang, die schönen, strahlenden Stimmen lassen die Zauberwelt Gestalt annehmen. Die Schwestern verstehen sich aufs Spinnen, Nähen, Beerenpflücken und Bibellesen, am Abend sitzen sie vor dem Hüttchen, gemeinsam mit der Mutter, es singt Irene Glaser, wird das Ave Maria zur glockenhell sich emporschwingenden Arie.
Der Bär klopft an die Tür, anfänglicher Schrecken verwandelt sich in Zuneigung, der manierliche Bär wird gestreichelt, man tanzt, die Idylle ist perfekt. Im Wald folgt ein beeindruckender Auftritt der Kobolde, ein unheimlicher, bedrohlicher Gesang mit Hähä und Hihi hebt an. Die Kobolde stehlen einen Schatz, der Bär tritt auf und schlägt sie tot, ein Jäger schießt beinahe den Bären tot, und nun kann Rosenrot ihn endlich mit ihrem Kuss erlösen, er verwandelt sich in den Prinzen. Es wird geheiratet, der Himmel wölbt sich über einer scheinbar heilen Welt, deren Bedrohung ja auch im Märchen sehr gut zum Ausdruck kommt. Jetzt und hier schmiegen sich die Mädchen vertraulich an die Schulter ihres Bräutigams, Rosenrot scheint den Bären, gespielt von Julius Vogel, zu trösten, der in seiner stummen Rolle gar nichts singen durfte.
Das Gesangsensemble, eine Art Generationenprojekt über mindestens sechs Jahrzehnte, schlüpft gekonnt immer wieder in neue Rollen und Ausdrucksformen, das rasante Umziehen verläuft unbemerkt, es erweist sich als fein aufeinander eingespieltes Team. Gesanglich und schauspielerisch begeistern die Mitwirkenden so sehr, dass das Studio beim Schlussapplaus zu bersten scheint. Rote Rosen werden von der glücklichen Musikschulleiterin Ulrike Goldau verteilt, und einmal mehr gilt es, den Mitwirkenden mit tragender Rolle besonders zu ehren: Harald Streicher, der das Ganze am Klavier begleitet hat.
Im September begann Cordelia Hanus mit den Proben, in weniger als einem Jahr wurde die Aufführung einstudiert, Kulissen vom Gesangsensemble selbst gestaltet. Die Gesangslehrerin blickt zufrieden auf ein Jahr zurück, in dem etwas gewachsen ist, das viel mehr hervorgebracht als schönen Gesang: Bühne und schauspielerische Qualitäten haben sich aus der Arbeit heraus entwickelt. Es ist ihre zweite Märchenoper, diese Aufführung steht aber unter einem besonderen Stern – der Komponist Carl Reinecke ist eine Entdeckung: er hat 288 Opern komponiert, erzählt sein Ururenkel Stefan Schönknecht, der aus Leipzig angereist ist um die deutsche Erstaufführung der Oper für seinen Musikverlag aufzunehmen. Er führt in Leipzig ein Museum des Erfinders des Genres Märchenoper, dessen 200. Geburtstag nächstes Jahr zu feiern ist und der stolze 35 Jahre lang Kapellmeister des Gewandhausorchesters war.
Eine zweite Aufführung fand am Sonntagabend mit neuer Besetzung statt: es treten Sophia Dongus, Teilnehmerin beim Bundesjugendwettbewerb von „Jugend Musiziert“ als Rosenrot, Louisa Schöffler als Schneeweißchen, Elfriede Walz als Mutter der beiden auf.
Gäubote, 27.06.2023
Gabriele Pfaus-Schiller